Anmerkungen über Sinn und Zweck von Gürtelprüfungen
Bevor ich diesen Artikel beginne und ein Leser mich der «Ketzerei» bezichtigen kann, weil ich das Graduierungssystem eines Stils kritisiere, dem ich selber angehöre, stelle ich hier fest, dass meiner Meinung nach jegliches Klassifizierungs- oder Graduierungssystem in den Kampfkünsten ein «notwendiges Übel» darstellen. Da macht auch ein traditionelles System der Kampfkünste keine Ausnahme.
Der ursprüngliche Sinn
der Dan-Grade in den Kampfkünsten
In den Anfängen der Kampfkünste wurde das Karate-Dô (und dessen Nachfolger Tode, Okinawa Te, Chuan Fa, etc.) in sehr privater Atmosphäre, kleinen Gruppen oder gar innerhalb von Familienclans gelehrt und weiter gegeben. Aus diesem Grund war ein Graduierungssystem nicht notwendig, denn die Methodik folgte einem einfachen Schema: Der Schüler vertraute blind seinem Meister und jener lehrte seinem Schützling nur dann fortgeschrittene Techniken, wenn der Schüler die vorherige Stufe wirklich beherrschte. Man kann behaupten, dass die einzig existente Klassifizierungsgröße der tatsächliche Fortschritt des einzelnen Schülers war, der sich stets unter den wachsamen Augen seines Meisters befand. Als das Karate aber nach Japan kam und in den Universitäten Einzug hielt, wurde seine Lehrmethodik in weiten Teilen vom japanischen Militär und dessen Lehrmethodik beeinflusst. Ähnliches passierte auch in den asiatischen Nachbarländern Japans und diese Art des (Massen-) Unterrichts machte sehr bald ein einheitliches Graduierungssystem für die enorme Anzahl von Schülern notwendig. So wurde ein Prüfungssystem ins Leben gerufen, das bestimmte Techniken einer bestimmten Graduierung zuschreibt. Meiner Meinung nach entwickelte sich mit diesem Schritt die Lehre, wo der Fortschritt in Relation mit dem wirklichen Können des Schülers gemessen wurde, zu einem System, in dem der Fortschritt des Schülers in Relation zu «anderen» gemessen wird. Das Graduierungssystem, wie wir es heute kennen, tauchte aus der Notwendigkeit heraus, die Lehrmethodik zu standardisieren und dem jeweiligen Meister seine Ausbildungstätigkeit zu erleichtern. Dem Meister wurde mit dem Graduierungssystem ein Werkzeug an die Hand gegeben, das ihm die Möglichkeit bietet den Schülern das «Programm» gemäß eines strukturierten «Lehrplanes» zu vermitteln. Daraus folgt für mich, dass der größte Nutzen dieser Graduierungen darin besteht, dass man sich in etwa eine Vorstellung machen kann wie lange ein Schüler schon Kampfkunst trainiert, weniger als Garant für seine erworbenen Fähigkeiten, die ihm sein Gürtel zusprechen. Es gibt viele, die in ihren Tagen würdige Träger ihrer jeweiligen Graduierung waren mit der Zeit aber die Zügel schleifen ließen und ihrer Graduierung keine Ehre mehr machten. Daher muss jeder Budoka zwar die Hierarchie und die Graduierungen respektieren, er darf aber nicht alles als gegeben und selbstverständlich betrachten. Der Budoka muss stets bemüht sein die Graduierung, die ihm zugesprochen wurde, würdig zu vertreten.
Glaubwürdigkeit der
Dan-Prüfungen
Bei Gürtelprüfungen in Vereinen und Föderationen tauchen nicht selten Aspekte auf, die manchmal an der Unparteilichkeit bzw. Stimmigkeit der jeweiligen Entscheidungen (bestanden – nicht bestanden) Zweifel aufkommen lassen. Es lässt sich zwar nicht für alle verallgemeinern, doch kommt es nicht nur vereinzelt vor, dass innerhalb einer Vereinigung ein und dieselbe Prüfungsnorm für Prüfungen in verschiedenen Stilen oder Schulen als Kriterium herangezogen wird. Genau aus diesem Grund müssen die Prüfungsinhalte klar definiert werden und auf den jeweiligen Stil zugeschnitten sein, in dem sich der Prüfling examinieren will. Das heisst im Endeffekt, dass man dem Prüfungskomitee bei seinen Entscheidungen und der Prüfungsdurchführung auch einen größeren Spielraum zugesteht. So würde man erreichen, dass jeder Prüfling einen dem jeweiligen Stil angepassten Prüfungsprozess durchläuft. Wenn die Prüfungsanforderungen andererseits zu hoch gesteckt sind, kann dies einige wenige bevorzugen, die sich sozusagen auf diese Normen spezialisiert haben. Es ist schon schwer genug sich eine Meinung über das Potential einer Person und dem, was sie zeigt, zu bilden. Es ist daher leicht möglich, dass es bei einer Prüfung zu einer Fehlentscheidung kommt. Zu viele interne und externe Variablen bei Prüfling und Prüfer können eine objektive Bewertung zu einem schier unmöglichen Unterfangen verwandeln. Weder Prüfling noch Prüfer sollten daher eine Gürtelprüfung auf die leichte Schulter nehmen. Wenn ein Schüler eine Prüfung nicht besteht und bei der nächsten Gürtelprüfung die Prüfungsgebühr noch einmal bezahlen muss, so lässt das nicht nur an der Seriösität der jeweiligen Organisation zweifeln, sondern auch und vor allem am «Wert» der von ihr vergebenen Graduierungen.
Prämissen von
Gürtelprüfungen
Damit ein Graduierungssystem allgemein anerkannt wird, muss es eine Anzahl von Mindestanforderungen erfüllen, die Prüfungsordnung und -durchführung betreffen. Die grundlegendsten Prämissen, die erfüllt sein müssen sind:
– Wertigkeit: Damit die Prüfung von «Wert» ist, muss gewährleistet werden, dass der Prüfling genauestens über die jeweiligen prüfungsrelevanten Aspekte in Kenntnis gesetzt werden muss. Aber auch beim Prüfer muss gewährleistet werden, dass dieser Besonderheiten und Unterschiede der verschiedenen Prüfungsniveaus sozusagen aus dem Effeff kennt.
– Zuverlässigkeit: Die Prüfung muss unabhängig von bestimmten Umständen oder dem jeweiligen Moment durchgeführt werden. Diese Anforderung ist in aller Regel diejenige, die am meisten in Frage gestellt wird, da die meisten Schüler sich zu sehr auf das vorgegebene Prüfungsprogramm konzentrieren und die «alltäglichen» Trainingsaspekte zur Seite schieben.
Objektivität: Das Prüfungsergebnis muss unabhängig von den an der Prüfung beteiligten Personen (Prüfungskommission, Prüfling) zustande kommen. Nur die dargebotene Leistung darf Entscheidungsgrundlage sein!
– Entscheidungsspielraum beim Anlegen der Bewertungskriterien: Jeder, der zu einer Prüfung antritt, sollte gemäß seiner Physiognomie, seiner technischen Linie oder Stiles geprüft werden. Es sollte zudem auch jene Bereiche berücksichtigt werden, denen der Prüfling selbst besondere Bedeutung beimisst.
– Ausgebildete Prüfer: Dem Prüfungskomitee kommt aufgrund seiner Qualifikation und langjähriger Erfahrung eine besondere Bedeutung zu, um die Glaubwürdigkeit eines Graduierungssystems aufrecht zu erhalten. Füllen Prüfer diese Posten aus egoistischen Gründen (z.B. Nepotismus) aus, so werden die von ihnen verliehenen Graduierungen sehr schnell an Glaubwürdigkeit verlieren. Nur ausgebildete und allgemein anerkannte Prüfer sind auf lange Sicht in der Lage, ein von allen akzeptiertes Graduierungssystem aufrecht zu erhalten.
Überbewertung von Graduierungen
Es ist vielen Budokas schon zur Gewohnheit geworden, darauf hinzuweisen, dass von einigen Schülern dem Erreichen eines bestimmten Grades viel zu viel Aufmerksamkeit beigemessen wird. Das geht so weit, dass einige in den Prüfungen ein geeignetes Mittel sehen ihr Ego zu befriedigen, indem sie ihre «hohe» Graduierung zur Schau stellen. Diese Personengruppe tauschte schon vor langer Zeit den Keikogi mit Anzug und Krawatte aus. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich stelle keinesfalls die Existenz der Funktionäre und Direktoren in Frage! Ich bin aber davon überzeugt, dass man klar zwischen der ausgefüllten Position deren Funktion und den tatsächlich in einer Kampfkunst erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten zu unterscheiden hat, besonders dann wenn diese Personen Fähigkeiten und Einstellungen anderer Personen beurteilen sollen. Ich frage mich: Wie können diese Menschen sich ein Urteil über andere erlauben, die sich jeden Tag aufs neue im Training zur Selbstüberwindung zwingen, schwitzen, hart an sich arbeiten und versuchen ihre Technik und ihr Menschsein zu verbessern? Wie können Personen in hohen Prüfungskomitees sitzen, die vergessen haben, was ein Hämatom ist und was das Glücksgefühl nach einem anstrengenden und schweisstreibenden Training bedeutet? Daher ist es notwendig den Tatsachen ins Auge zu schauen und sich nicht selber ein Niveau zuzuschreiben, das man vielleicht gar nicht besitzt. Das heisst nicht, dass es in den hohen Führungsgremien nationaler und/oder internationaler Verbände keine Funktionäre gäbe, die nicht mehr aktiv trainieren oder die ihre Grenzen zugeben, doch bilden diese eine unbedeutende Minderheit.
Graduierungen – vergänglich oder von ewigem Wert?
Für die Beantwortung dieser allegorisch gestellten Frage, greife ich auf ein Aphorismus zurück: «Das Karate-Dô (oder jede andere Kampfkunst) ist wie ein gefüllter Wasserkessel, um das Wasser heiss zu halten, muss der Kessel über dem Feuer gehalten werden!» Eine einmal erworbene Graduierung muss quasi ständig erneut erworben werden. Man darf also in seinem Training und seinen Anstrengungen mit Erhalt der neuen Graduierung nicht nachlassen, sondern kontinuierlich weiter an sich arbeiten, um jene Fähigkeiten weiter auszubauen, mit denen man sich dereinst seinen Grad verdient hat.
Wenn es sich aber so verhält, welche tatsächliche Aussagekraft haben dann ein 1., 2., 3., 4., 5., oder 6. Dan? Soll das etwa bedeuten, dass wir uns auf unseren Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen dürfen? Ist es nicht recht naiv zu glauben, dass eine einmal erreichte Graduierung unser Können quasi auf alle Zeit gegenüber den anderen zementiert? Wer das glaubt ignoriert entweder die Wirklichkeit, ist eingebildet oder beides. Ich will hier wirklich niemanden angreifen oder beleidigen, aber mal Hand aufs Herz, was soll man zu jemanden sagen, der mit einem ebenbürtigen oder in der Graduierung etwas unter ihm stehenden Trainingspartner trainiert und sich darüber beklagt, dass dieser zu hart angreift oder verteidigt? Es gibt bestimmt einige, die nun meinen ich übertreibe, aber solche Fälle gibt es durchaus. Besonders bei diejenigen, die in ihren «guten Zeiten» ein bestimmtes Niveau halten konnten, aber ihnen nun völlig abhanden gekommen ist. Sie wurden langsam aber sicher von den nachrückenden Schülergenerationen überholt. Es ist in der Tat traurig mit anzusehen, wie sich diese Vertreter der Kampfkunst immer weiter vom korrekten Weg abwenden und einige von ihnen sogar ihre Position in der jeweiligen Hierarchie mit ihrer Graduierung zu rechtfertigen versuchen. Graduierungen, einschließlich der Dan-Grade, besitzen keine magischen Kräfte und es darf niemanden verwundern, dass es den unteren Graden immer schwerer gemacht wird, denn die Nomenklatur verteidigt ihre Positionen mit Zähnen und Klauen. Dennoch können diejenigen, die den Gipfel schon erreicht haben und sich «dort oben» ausruhen, leicht abstürzen. Dann gilt: Konsequenzen ziehen! Wer sich auf dem Weg des Budo befindet, sollte sich auf keinen Fall von der «falschen Sicherheit», die ihm seine Graduierung suggerieren mag, einlullen lassen. Graduierungen sind lediglich Orientierungsmarken, die uns bei unserer Entwicklung helfen sollen. Sie markieren nie und in keinem Fall ein endgültiges Ende!
«Titulitis» – eine wahre
Epidemie!
Mit dieser Überschrift möchte ich auf das Problem hinweisen das auftaucht, wenn man Titeln und Graduierungen an sich mehr Wert beimisst, als dem Wissen, das sie zum Ausdruck bringen sollen. Es ist traurig ansehen zu müssen wie viele geradezu besessen davon sind, diese oder jene Graduierung zu erringen, nur um den einen oder anderen zu «übertrumpfen». Daher hängt bei vielen die Entscheidung, ob sie an einem Seminar teilnehmen oder nicht, davon ab, ob sie danach eine Urkunde oder sonst ein «verwertbares» Zertifikat erhalten. Die wenigsten interessiert es, wie sie auf dem Seminar ihre Kenntnisse erweitern und/oder vertiefen können.
Bei manchen geht diese Fixierung auf das Hochklettern in der «Gürtelhierarchie» so weit, dass sie sich in ihrem Training ausschließlich auf «prüfungsrelevante Bereiche» beschränken. Auf diese Weise bleiben dann wichtige Teilbereiche ausgespart, die für die jeweilige Kampfkunst von enormer Bedeutung sein können, da sie aber nicht im offiziellen Prüfungsprogramm auftauchen … Wieviel Zeit verschwendet man mit exzessiver Prüfungsvorbereitung und wie viele bedeutende Aspekte bleiben dadurch auf der Strecke oder geraten gar mit der Zeit in Vergessenheit?! Einige meinen sie wären noch zu jung, um wirklich tief in eine Kampfkunst einzutauchen, andere wiederum glauben sie seien zu alt dafür oder meinen, dass sie schon zu viel Zeit in eine bestimmte Form «investiert» hätten, um noch einmal über Sinn und Zweck von Lehre und Praxis nachzudenken. Aber auch wenn man sich dessen bewusst sein sollte, dass man sich auf der falschen Fährte befindet, so glaubt man doch schon etwas zu spät dran zu sein, um die Sicherheit des schon bekannten verlassen zu können. Statt dessen greift man auf eine andere Praxis zurück, die in ihrer Konsequenz, wenn man es genau betrachtet, noch sehr viel schlimmer sein kann, die aber den Vorteil hat, einem das Gefühl zu geben das «Richtige» zu tun. Das Training von Schülern! Was mich an all dem am meisten stört ist, dass man dadurch schlicht die Lust daran verliert sich ständig weiter zu verbessern, sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Es geht nicht nur einfach darum zu trainieren, sondern es geht darum korrekt zu trainieren, d.h. nie an einer Stelle stehen zu bleiben. Was wäre aus der Medizin geworden, wenn die Ärzte, wenn sie einmal ihre Aprobation in der Tasche hätten, plötzlich ihr Interesse für die Medizin verlören und kein Interesse mehr an neuen Operations- und Therapiemethoden hätten? Wenn man die Kampfkünste wahrhaftig als eine Kunst und gleichzeitig als eine Wissenschaft betrachtet, warum sollte man sie dann nicht auch mit dem gehörigen Ernst, Verantwortungsbewusstsein und Respekt ausüben?
Zum Schluss noch ein Zitat von Hippokrates, das sehr gut an diese Stelle passt und meinen Grundgedanken sehr schön beschreibt: «Das Leben ist kurz, die Kunst langlebig, eine Möglichkeit ist flüchtig und Erfahrung und Urteil sind schwer zu erlangen».